Feuer und Flamme

Hast du auch die Feuerzunge gesehen? Tanzend auf dem Kopf der alten Lehrerin? Schon lange ist sie im Ruhestand. Aber noch wach im Geist. Philosophie und Ethik hat sie unterrichtet. Streng war sie und hat viel von ihren Schülerinnen abverlangt. Vor allem Vernunft und Klarheit beim Denken und Nachdenken. Und jetzt sitzt sie vor mir im Gottesdienst. Es ist Pfingsten. Der Altar ist mit Birkengrün und roten Blumen geschmückt. Auf jeder Seite sieben Blüten als Zeichen für die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Der Florist kennt sich aus. Wohl auch ein Kirchgänger. Vielleicht liest er sogar in den biblischen Geschichten. Sitzt er wohl auch in einer der vielen gefüllten Bankreihen und hört aufmerksam zu? Auf jeden Fall kennt er sich sehr gut aus. Meine Blicke wandern durch den Altarraum. Von den Birken zu den roten Blüten, und dann zu den Kelchen und Brottellern, bereit zum Teilen. Für dich gestorben. Für dich vergossen. Warum nicht: Für dich gelebt? Immer noch lebendig – für mich. Und dich.

Eine eindrucksvolle Kulisse. Und über dem Kopf der alten Lehrerin ein paar Reihen vor mir tanzt eine einzelne Feuerzunge. Tänzelt die ganze Zeit munter vor sich hin. Gerade wird die Pfingstgeschichte feierlich vorgelesen. Wie die Feuerzungen auf die erste Gemeinde herabfielen. Worte aus vergangenen Zeiten. Unglaubliche Bilder. Schon so oft gesehen und gehört. Aber hier und heute? Eine verirrte Feuerzunge, Zeichen für die Geistkraft Gottes. Feuer und Flamme für den Glauben und das Leben. Bewegte Leidenschaft statt kühler Vernunft. Wie kann das sein? Ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus. Ein besonderer Pfingst-Moment. Glauben pur. Unglaublich. Ich suche nach Worten und finde nur diese eine Feuerzunge.

Vor dem Altar steht eine Schale mit Feuer, das den ganzen Gottesdienst hindurch brennt. Eine der Flammen tanzt über dem Kopf der alten Lehrerin. Merkt sie etwas? Singt sie in fremden Sprachen? Lässt sie sich anstecken von dem Tanz der Pfingst-Flammen? Ich beobachte sie eine ganze Weile. Scheinbar hat sie sich gut im Griff. So ist sie eben. Immer schon gewesen.

Erst beim Segen am Schluss des Gottesdienstes fällt mir auf, warum die Feuerzunge über ihrem Kopf tanzt. Das Feuer vor dem Altar spiegelt sich in den Gläsern ihrer Lesebrille, die sie sich lässig in ihre Frisur gesteckt hat. Kein Pfingstwunder, sondern eine optische Täuschung. Ich bin kurz enttäuscht.

Dann aber lächele ich still in mich hinein. Ich habe gesehen, was ich sehen wollte. Meinem kleinen Glauben hat es aber Mut gemacht. Angefacht von einer tanzenden Feuerzunge. Pfingst-Mut für den Alltag nach dem Fest. (s j | d)

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Ahnen-Bande

Schon etwas länger beschäftige ich mich mit meiner Familiengeschichte. Besonders drei meiner Ahnen sind mir nahe. Von ihnen habe ich Bilder über meinem Schreibtisch hängen. Von Franziska und Josef Kommunionbilder, im Fotostudio gestellt, mit süßlichem und scheuen Lächeln. Von Marie ein Bild, wie sie auf ihrem Balkon inmitten der selbstgezogenen, üppigen Geranien sitzt. Auch sie lächelt eher verhalten.

Meinen Opa Josef kenne ich aus den vielen liebevollen Geschichten, die seine kleine Stiefschwester Franziska später von ihm erzählt hat. Er war ein sich um seine Mitmenschen sorgender Mann. Ein Künstler an Worten und Steinen. Einer, der nicht viel von bürgerlichen Konventionen hielt und sogar in bewegten Zeiten eine evangelische Frau heiratete. Meine Oma Marie, die morgen ihren 114. Geburtstag feiern könnte. Wenn ich als Kind und Jugendlicher mit meiner Oma durch die Straßen von Bitburg spazierte, bekamen wir ganz oft zu hören, wie ähnlich ich dem Josef sehe. Marie wurde dann immer ein bisschen stolz – so spürte ich es an ihrer Hand, die mich für einen Moment festhielt. 1944 wurde er nach der Landung der Alliierten in der Normandie als Soldat getötet. Ich habe immer noch das Gefühl, dass uns beide ganz viel verbindet, besonders die Kreativität, auch wenn ich mit Steinen selbst wenig anfangen kann. Auch das Zeichnen liegt mir so gar nicht. Aber das Spiel mit den Worten, das Schreiben – das habe ich von ihm geerbt. Dieses Ahnen-Band ist ganz stark.

Meine Oma Marie habe ich als realen Menschen kennengelernt. Viel zu spät habe ich sie dafür bewundert, was sie als Kriegswitwe mit zwei kleinen Kindern zu stemmen hatte. Der Krieg und die damit verbundene Trauer war zuhause oder bei den Besuchen bei Marie kaum Thema. Vielleicht wollten sie uns Kinder nicht unnötig erschrecken und traurig machen. Was der Tod und die Zerstörung und die Nächte in den Kellerbunkern mit ihnen gemacht hatte, hielten sie sorgfältig unter Verschluss. Die sicherlich vorhandenen Gefühle der Angst und Hoffnungslosigkeit wurden verbannt. Meine Oma hat mir aber das Schweizerische mitgegeben. Und obwohl sie in der Lüneburger Heide geboren wurde, weil ihre Eltern Wanderarbeiter waren, habe ich immer noch ein Staunen und Spüren, wenn ich an die Heimat meiner Oma denke: das Berner Oberland und der Ort Aeschi fühlt sich auch heute noch ein bisschen wie Heimat an. Auch wenn ich dort erst einmal vor vielen Jahren war und entfernte Verwandte getroffen habe, darunter auch einen reformierten Pfarrer. Auch der Klang ihres Mädchennamens, Marie Bühler, berührt mich immer noch.

Am innigsten war ich mit meiner Großtante Franziska verbunden, vor allem in ihren letzten Lebensjahren. Ich bin selten einem so warmherzigen Menschen begegnet. Bei ihr zu sein, bedeutete Geborgenheit. Ihrem Erzählen hörte ich immer gebannt zu. Ihre Erzählungen waren wie eine Brücke in die Vergangenheit. Vor allem zu den Menschen, meinen Vorfahren. Sie hat mir vorgelebt, was Familie ist. Gerade in der Zeit, als ich den Kontakt zu meinen Eltern verloren hatte. Ihr Tod hat mich dann sehr traurig gemacht. Aber ich bin gewiss, dass sie vom Himmel, ihrem Lieblingsort, auf uns herabschaut und auf uns aufpasst. Ich sehe sie dabei liebevoll und gütig lächeln. Und ich lächele dankbar zurück. Mit einer kleinen Träne im Auge.

Jetzt, wo ich älter werde, ist mir dieser Beistand meiner Ahnen wichtig. Ich will sie in meiner Nähe haben. Wenn ich ihre Bilder betrachte, dann spüre ich, dass das Leben so viele Möglichkeiten bereithält. Kein Lebensjahr mit seinen unterschiedlichen Erfahrungen ist vergebens. Ich nehme davon so vieles mit in die nächsten Jahre.

Und bleibe neugierig auf das Leben und den Himmel.

(s j | d – 13. Mai 2024)

umarmung

am rettenden ufer
deiner umarmung
atme ich
müde
den himmel ein

meine einsamkeit
und meine verwundungen
lasse ich zurück

ich sehe
den himmel
in dir

und mein leben
wird trotz allem
liebe

(s j | d - 22.04.2024)
Bild: TheQueerAI auf pixabay.de

märz, 24 (palmsonntag)

jesus allein
trägt den
palmzweig
in die stadt

menschenleer
die straßen

hoffnungsmüde 
gesichter 
hinter den mauern

der mut
zum frieden
erschöpft

jesus allein
trägt den 
palmzweig
in die stadt

und weint
lange


(s j | d - 23.03.2024)
Bild: Daniel Tsai auf pixabay.de