
Schon etwas länger beschäftige ich mich mit meiner Familiengeschichte. Besonders drei meiner Ahnen sind mir nahe. Von ihnen habe ich Bilder über meinem Schreibtisch hängen. Von Franziska und Josef Kommunionbilder, im Fotostudio gestellt, mit süßlichem und scheuen Lächeln. Von Marie ein Bild, wie sie auf ihrem Balkon inmitten der selbstgezogenen, üppigen Geranien sitzt. Auch sie lächelt eher verhalten.
Meinen Opa Josef kenne ich aus den vielen liebevollen Geschichten, die seine kleine Stiefschwester Franziska später von ihm erzählt hat. Er war ein sich um seine Mitmenschen sorgender Mann. Ein Künstler an Worten und Steinen. Einer, der nicht viel von bürgerlichen Konventionen hielt und sogar in bewegten Zeiten eine evangelische Frau heiratete. Meine Oma Marie, die morgen ihren 114. Geburtstag feiern könnte. Wenn ich als Kind und Jugendlicher mit meiner Oma durch die Straßen von Bitburg spazierte, bekamen wir ganz oft zu hören, wie ähnlich ich dem Josef sehe. Marie wurde dann immer ein bisschen stolz – so spürte ich es an ihrer Hand, die mich für einen Moment festhielt. 1944 wurde er nach der Landung der Alliierten in der Normandie als Soldat getötet. Ich habe immer noch das Gefühl, dass uns beide ganz viel verbindet, besonders die Kreativität, auch wenn ich mit Steinen selbst wenig anfangen kann. Auch das Zeichnen liegt mir so gar nicht. Aber das Spiel mit den Worten, das Schreiben – das habe ich von ihm geerbt. Dieses Ahnen-Band ist ganz stark.
Meine Oma Marie habe ich als realen Menschen kennengelernt. Viel zu spät habe ich sie dafür bewundert, was sie als Kriegswitwe mit zwei kleinen Kindern zu stemmen hatte. Der Krieg und die damit verbundene Trauer war zuhause oder bei den Besuchen bei Marie kaum Thema. Vielleicht wollten sie uns Kinder nicht unnötig erschrecken und traurig machen. Was der Tod und die Zerstörung und die Nächte in den Kellerbunkern mit ihnen gemacht hatte, hielten sie sorgfältig unter Verschluss. Die sicherlich vorhandenen Gefühle der Angst und Hoffnungslosigkeit wurden verbannt. Meine Oma hat mir aber das Schweizerische mitgegeben. Und obwohl sie in der Lüneburger Heide geboren wurde, weil ihre Eltern Wanderarbeiter waren, habe ich immer noch ein Staunen und Spüren, wenn ich an die Heimat meiner Oma denke: das Berner Oberland und der Ort Aeschi fühlt sich auch heute noch ein bisschen wie Heimat an. Auch wenn ich dort erst einmal vor vielen Jahren war und entfernte Verwandte getroffen habe, darunter auch einen reformierten Pfarrer. Auch der Klang ihres Mädchennamens, Marie Bühler, berührt mich immer noch.
Am innigsten war ich mit meiner Großtante Franziska verbunden, vor allem in ihren letzten Lebensjahren. Ich bin selten einem so warmherzigen Menschen begegnet. Bei ihr zu sein, bedeutete Geborgenheit. Ihrem Erzählen hörte ich immer gebannt zu. Ihre Erzählungen waren wie eine Brücke in die Vergangenheit. Vor allem zu den Menschen, meinen Vorfahren. Sie hat mir vorgelebt, was Familie ist. Gerade in der Zeit, als ich den Kontakt zu meinen Eltern verloren hatte. Ihr Tod hat mich dann sehr traurig gemacht. Aber ich bin gewiss, dass sie vom Himmel, ihrem Lieblingsort, auf uns herabschaut und auf uns aufpasst. Ich sehe sie dabei liebevoll und gütig lächeln. Und ich lächele dankbar zurück. Mit einer kleinen Träne im Auge.
Jetzt, wo ich älter werde, ist mir dieser Beistand meiner Ahnen wichtig. Ich will sie in meiner Nähe haben. Wenn ich ihre Bilder betrachte, dann spüre ich, dass das Leben so viele Möglichkeiten bereithält. Kein Lebensjahr mit seinen unterschiedlichen Erfahrungen ist vergebens. Ich nehme davon so vieles mit in die nächsten Jahre.
Und bleibe neugierig auf das Leben und den Himmel.
(s j | d – 13. Mai 2024)